Rede zur Ausstellungseröffnung DENNING | BJØRN von Rüdiger Otto von Brocken
Lieber Anne Björn,
liebe Gäste dieser außergewöhnlichen Ausstellung an einem außergewöhnlichen Ort, der Carlshöhe,
ich gestehe es nur ungern, aber ich habe einen Vogel. Dabei liegen mir Fische und Meeressäuger mehr als unsere gefiederten Freunde, auch wenn es zwischen beiden eine enge evolutionäre Verbindung gibt. Dieser Vogel hier, ist mir aber auch deshalb so ans Herz gewachsen, weil er von Ken Denning ist. Es handelt sich um einen Papageientaucher oder, um es mit Magritte zu sagen, nicht um den Vogel selbst, sondern um das Bildnis eines Papageientauchers – in Gestalt einer Umriss-Zeichnung mit weißem Stift auf schwarzem Grund, die mich unweigerlich an eine Schiefertafel, das tablet meiner Kindheit, erinnert.
Doch das ist nicht der Grund, warum Kens Vogel-Bild mich hierher, nach Eckernförde, begleitet hat. Anders als Störche, die sich ihrem Lebensraum anpassen und daher – statt beizeiten gen Süden zu ziehen – schon mal in der wohlig-warmen Atmosphäre einer norddeutschen Kläranlage überwintern, trotzen echte Papageientaucher den Unbilden windzerzauster Klippen und der kruden Wucht unberechenbarer Ozeanwellen und scheinen damit Einspruch gegen ihre eigene putzige Namensgebung einlegen zu wollen. Oder hätten Sie einen Papageien im Nordatlantik erwartet?Auch sehen Papageientaucher nur so aus wie Papageien. Tatsächlich benehmen sie sich eher wie Basstölpel. Was das mit unserem heutigen Thema zu tun hat, werden Sie fragen? Nun, eine Menge, jedenfalls wenn man bedenkt, dass unsere Wirklichkeit einer Pfütze gleicht, in der wir uns tagtäglich spiegeln, aber trotzdem nicht wiedererkennen.
Einen Perspektiv-Wechsel wagen und unbekanntes, aber keineswegs fremdes Land betreten
Eine Ausnahme bildet das, was uns heute hier zusammengeführt hat: dass uns Menschen wie Anne oder Ken an die Hand nehmen, dass wir mit ihrer Hilfe einen Perspektiv-Wechsel wagen und unbekanntes, aber keineswegs fremdes Land betreten dürfen. Das ist allerdings leichter gesagt als getan und erfordert seitens unserer künstlerischen – ich nenne sie mal – „Sozialarbeiter“ ein gerüttelt Maß an Engagement und Einfühlungsvermögen. Nur so nämlich gelingt es Kunst und KünstlerInnen, Türen zu öffnen, die uns sonst womöglich verschlossen blieben und Einblicke zu gewähren, die zuweilen mehr über uns selbst aussagen als uns lieb ist.
Der Titel dieser Ausstellung – Gordon hat es in seiner Begrüßung schon erwähnt – ist nicht nur gut gewählt, sondern geradezu programmatisch. „Strich und Faden“ – das charakterisiert nicht nur die Ausdrucksformen von Anne Björn und Ken Denning, es ist zugleich Ausdruck einer Jahrzehntausende alten Geschichte. Die mit mehr als 30000 Jahren ältesten gesponnenen und gefärbten Flachsfasern wurden in der Dzudzuana-Höhle auf dem Territorium des heutigen Georgiens gefunden. Und nicht wenige Experten erklären, dass Nadel und Faden die wichtigste Erfindung der Steinzeit waren.
Die Suche nach Struktur … die Reduktion von Erlebtem
Und der Strich? Mit mehr als 50000 Jahren noch älter als die berühmten Malereien von Lascaux sind die orangefarbenen Zeichnungen der Höhle Lubang Jeriji Saleh (gesprochen: Lubang Teriti Sa) im indonesischen Borneo. Auch was sie abbilden, ist aufschlussreich: Tiere und Handumrisse. Tier und Mensch. Mensch und Natur. Strich und Faden… …an denen womöglich alles hängt? Aber was bedeutet das eigentlich? Strich und Faden. Gewebe bestehen aus zwei sich kreuzenden Fäden, Strich und Faden. Die daraus abgeleitete Redewendung „Nach Strich und Faden“ beschreibt, dass jemand etwas besonders gründlich machen will. Eine Formulierung die, wie alles im Leben, weithin interpretierbar ist, aus meiner Sicht aber vor allem zwei Wesensmerkmale von Annes und Kens Werk widerspiegelt, auch wenn sie sich bei ihrer Arbeit ganz unterschiedlicher Materialien und Techniken bedienen. Das eine ist die Suche nach Struktur, das andere die Reduktion von Erlebtem und Erfahrenem auf atmosphärisch verdichtete Bildwerke, die der äußerlich vorgefundenen Realität eine eigene künstlerische Wirklichkeit gegenüberstellen.
Anne ist es nach eigener Aussage wichtig, dass Tradition und Innovation in ihren Werken symbiotisch zueinanderfinden, einen „gemeinsamen Klang“ erzeugen. Nicht zuletzt in diesem Wechselspiel von Vergangenheit und Gegenwartserfahrung entfaltet sich die tiefgründige Leichtigkeit, die ihren Arbeiten innewohnt, ein Schweben im Hier und Jetzt. Wir werden Zeugen einer Metamorphose, die Zustandsbeschreibung und Bewegung in einem ist und im Auge des Betrachters immer neue Formen annimmt. Anne beschreibt diesen Vorgang in aller Bescheidenheit so: „Mit meiner Arbeit kann ich Menschen dabei helfen, eine (gute) Erfahrung zu machen. Wenn sie denn dazu bereit sind.“
Weil Kunst nicht nötig ist, gibt es sie überhaupt
Das erinnert an Ken, der denselben Prozess wie folgt beschreibt: „Was das ist? Ein Bild? Keiner hat mich aufgefordert, es zu malen. Und die Vögel werden weiter fliegen, wenn ich es nicht tue. Nur weil Kunst nicht nötig ist, gibt es sie überhaupt.“ Der von Anne geprägte Begriff „des gemeinsamen Klangs“ findet seine Korrespondenz in Kens Antwort auf die Frage, warum er Bach und Händel so schätze. Wie diese beiden Komponisten sucht auch er nach Zusammenhängen. Und wie Anne verarbeitet auch er die Erkenntnisse, die das Ergebnis dieser Prozesse sind, zu einfachen, aber wirkmächtigen Chiffren. Chiffren, die ihrerseits eine Struktur, einen eigenständigen künstlerischen Kosmos aus Rhythmus und Wiederholung entfalten.
Die Aria der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach ist zweiteilig angelegt und besteht aus 16 und noch einmal 16 Takten. Diese 32 Takte korrespondieren mit den 32 Sätzen des Werkes. Die Variationen bauen auf der Basslinie auf, die ihrerseits eine Erweiterung der achttaktigen Basslinie auf 32 Takte darstellt und die Georg Friedrich Händel später für einen Satz von 64 Variationen verwendete. Mehr Struktur geht bald nicht, oder? Für Ken muss das eine überwältigende Entdeckung gewesen sein. Tatsächlich dürfte er das Gefühl gehabt haben, eine Art Welt-Sinfonie zu hören – so elementar wie, aber zugleich ungleich schöner als das Grundrauschen im Universum, von dem zu Bachs und Händels Zeit niemand auch nur eine Ahnung hatte. Andererseits hätte Ken Bachs und Händels Musik niemals verstehen wollen: „Ich will sie nur mit meinen Ohren hören“, hat er einmal notiert. So wie er immer wieder auszog, zu den Färöer-Inseln oder nach Island, um den Odem dieser Orte einzuatmen und sie am Ende in der selben Sprache zu beschreiben oder – um im Bild zu bleiben – zu hören, wie den geliebten Gendarmenstieg vor seiner Haustür. In seiner: Ken Dennings Sprache und seinen, Ken Dennings Farbklängen! „Music on the wall“ lautete dann auch der Titel seiner vorletzten Ausstellung zu Lebzeiten auf Gut Wittmoldt bei Plön.
Textile Sonden, um Raum und Zeit zu erkunden
In Annes fragilen Installationen wiederum schwärmen textile Sonden aus, um Raum und Zeit zu erkunden, und spiegeln dabei letztlich – wie bei Ken – grundsätzliche an persönlichen Fragestellungen und Erfahrungen. Oder anders gesagt: Annes Arbeiten stützen sich in ihrer Wirkung auf den Raum, den sie erzeugen. Gelegentlich kombiniert sie dabei textile Kompositionen mit Fotografie und Grafik – so wie Ken zuletzt wieder Landschafts-Fotografien übermalte, die ihm bereits zu Beginn seiner künstlerischen Arbeit als „Nagel“ dienten, an dem er, Zitat, seinen „Mantel aufhängen“ konnte. Nicht von ungefähr lobt Kollege Falko Behrendt, der heute gern dabei gewesen wäre, aber in seiner Druckwerkstatt in Wameln letztmalig Gelegenheit hat, besonders große Radierungen zu drucken, Kens „grafischen Reichtum“, den er – Zitat – „auf engstem Raum zu entfalten versteht“. Hinzu kommt bei Anne wie bei Ken eine gewisse Transparenz, eine konzertierte Durchlässigkeit, die bei ihr dank des Materials, mit dem sie arbeitet, augenfälliger ist als bei ihm. Von welch elementarer Bedeutung sie aber auch für Ken ist, bringt seine Maxime „Die Seele braucht in jedem Bild einen Punkt, durch den sie entweichen kann“ zum Ausdruck.
Bei Annes jüngsten Arbeiten fällt eine abermalige Verdichtung auf. Noch entschiedener wird der einzelne Faden in den Fokus gerückt, darf er in wechselnden Wirkungszusammenhängen seine ganze Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit ausleben. Welchen Einfluss haben Licht und Schatten, haben die jeweiligen räumlichen Bedingungen auf diesen Konzentrationsprozess? Und welche neuen künstlerischen Dimensionen lassen sich aus dieser Erfahrung ableiten? Auch hier geht es in erster und letzter Instanz um Struktur, aber mehr noch um Einlassung, Neugier und Kreativität, die selbst in unserer Transzendenz-losen Zeit Lust auf Abenteuer machen.
Nicht Rainer Maria Rilkes düsteres Weltbild
„Wir ordnen’s.
Es zerfällt.
Wir ordnen’s wieder
und zerfallen selbst.“
wird hier beschworen, sondern der lebendige, kreative Umgang mit einer Welt, die Max Planck, der nun wahrlich kein Schwarmgeist war, einmal so beschrieben hat: „Je länger ich mich wissenschaftlich mit ihr beschäftige, desto mehr glaube ich an Gott.“ An dieser Stelle hätte Samuel Beckett wahrscheinlich widersprochen oder zumindest eine genauere Herleitung des Gottesbegriffes eingefordert. Aber das ist ein anderes weites Feld und heute nicht unser Thema.
In Vorbereitung auf diese Ausstellung habe ich mich gefragt, ob Anne und Ken sich eigentlich mal begegnet sind. „Einmal“, antwortete Anne, als ich die Frage an sie weitergab – „bei einer Ausstellung“. Wie könnte es auch anders sein! Sie kam, um aufzubauen, er um abzuhängen. Es war ein kurzes Intermezzo. „Noch dazu 40 Jahre her“, sagt Anne. Doch wie schrieb ein Kollege von Steffi und Gordon in seiner Traueranzeige zu Kens Tod: „Ein Freund ist gestorben. Der Künstler bleibt.“ Mehr noch: Gemeinsam mit Anne verschafft er uns – mit seiner Sicht auf die Dinge -, mit seiner Kunst lebendige und unmittelbare künstlerische Begegnungen, die über die Zeit hinausgehen. Was kann man mehr verlangen?
Ich danke Ihnen – gern auch nach Strich und Faden – für Ihre Aufmerksamkeit, Steffi und Gordon, aber vor allem Anne für das aktive Erleben sowie das eine oder andere handgemachte Wunderwerk. Und Ken dafür, dass ich mit Dir einen außergewöhnlichen Menschen und Künstler kennenlernen durfte. Und nun lasset uns staunen. Denn darum geht es, am Anfang und am Ende, vom Anfang bis zum Ende!
Rüdiger Otto-von Brocken, 12. April 2025, Galerie Rieck, Carlshöhe; Eckernförde